Donnerstag, 1. Juli 2010

Träumen, Quälen und Spenden!

Ja wie ihr sicherlich schon gelesen habt, hab ich mein Ziel von 7 Stunden um 160 Sekunden verpasst. Bin ich jetzt unzufrieden oder sogar deprimiert? Ganz klar Nein! Und warum? Das will ich mal in den nächsten Zeilen erörtern - ja genau, eine Erörterung im klassischen Sinn mit Einleitung, Hauptteil und Schluss. Vielleicht gibts ja Lehrer unter euch Lesern, die mich benoten. Mein Ziel ist hier ein "ausreichend". Für Stephan und mich gings am Samstag vormittag in Richtung Nauders, wo der Dreiländergiro anstand. Stephan hat sich wohl in der Woche davor zum ersten Mal das Höhenprofil angeschaut und war gelinde gesagt etwas verwundert, dass am Stilfser Joch ja mal fast 2000 Höhenmeter zu überwinden sind. Mir war das zwar schon klar, aber ich habe dann direkt vor Ort gemerkt, dass 2000 Höhenmeter etwas anderes sind als 200 bei uns oder auch mal 900 im Schwarzwald. Abends haben wir dann unsere Fahrräder noch gepflegt und für den frühen Sonntag morgen vorbereitet.
Nach einem unruhigen Schlaf bei mir und einem Tiefschlaf bei Stephan - das Wecken dauerte mindestens fünf Minuten - und einem Frühstück rollten wir um 6:15 Uhr zum Start und bestaunten das riesige Starterfeld, das bis weit in den Ort reinreichte. Wir hatten durch die gute Lage unserer Pension zum Glück einen Platz im vorderen Drittel der 3000 Starter. Der Start war dann sehr schön anzuschauen, wie sich der riesige Haufen an Radlern sich langsam und sicher in Bewegung setzte. Das Wetter war jetzt schon kaiserlich und so ging es zügig in Richtung Vinschgau. Der erste Traumblick war dann der Reschensee, der still und leise unterhalb der Passhöhe lag. Den Turm im Reschensee habe ich das letzte Mal vor ca. 15 Jahren gesehen, als ich mit meinen Eltern im Vinschgau zum Wandern war. Nach der Abfahrt ging dann der Anstieg zum Stilfser Joch los. Der Anfang ist sehr idyllisch entlang eines rauschenden Flusses. Das nächste Highlight war dann die erste Tafel mit der magischen 48 - ich bin endlich am Stilfser Joch angekommen. Nur noch 48 Kehren und ich bin oben! Weiter durch den Wald wurden die Zahlen immer kleiner und immer wieder konnte ich meinen Blick auf schroffe und teilweise schneebedeckte Felshänge schweifen lassen. Und das absolute Highlight kam dann an der Baumgrenze, als man als kleiner Mensch vor einer Felswand steht, an der sich die letzten Kehren hoch bis zur Passhöhe schrauben. Egal wo man hinschaute, sprudelten die Endorphine: direkt am Straßenrand kleine Schneefelder, dahinter blühender Enzian, der Blick hinunter auf die bereits geschafften Kehren mit einer nicht endenden Schlange an Radlern, der Blick hinauf zur Passhöhe, der Blick in den strahlend blauen Himmel, der Blick in die enorme Bergwelt - Geil! (auch wenns hier einen Ausdruck-Fehler gibt)
Reschensee
Nach der Passhöhe gabs dann für einen kleinen Moment noch einen gigantischen Ausblick auf das Ortlergebiet - danach gings mit Tempo 60 bis 70 ab in Richtung Schweiz. Hier hatte ich keine landschaftlichen Höhepunkte, dafür aber sportliche. Stellt euch die Helmkameraperspektive bei der Formel 1 vor, wie Schumi sich im Windschatten an Alonso ransaugt, dann rauszieht, später bremst und auf der letzten Rille die Spitzkehre nimmt, um danach als erster wieder voll rauszubeschleunigen. So fühlte ich mich und hatte dabei den Kommentar von Christian Danner im Kopf: "Das ist Racing pur!" Leider war das Vergnügen viel schneller als die Fahrt nach oben vorbei, aber auch das war nur eins: Geil!
Im Müstairtal gings dann in Richtung Ofenpass. Der Ofenpass war schon von weitem sichtbar, da ich in der Ferne eine U-förmige Bergkette vor mir hatte und in der Mitte - wo sie zum Glück am niedrigsten war - schlängelte sich eine Straße nach oben bis zur Passhöhe. Bis ich dort angelangt war, konnte ich aber noch dieses wunderschöne Tal mit seinen so saftig grünen Wiesen genießen. Auch hier kam mir sofort ein Zitat in den Kopf: "Da würde ich am liebsten reinbeißen!" Ich fühlte mich wie im Urlaub - wie in einem riesigen grünen Meer, das von allen Seiten von schroffen Felswänden umgeben war.
Das nächste Highlight - und zugleich das letzte - war dann der Anstieg zur Norbertshöhe. Die 9 (oder 11?) Kehren waren gefühlt ziemlich schnell vorbei, als kurz vor der Kuppe mir ein Zuschauer zuruft: "Noch 200m, dann gehts nur noch runter!" Da mein Tacho erst 163 Kilometer anzeigt (168km ist der Giro lang), bin ich etwas stutzig, aber sprinte trotzdem noch die letzten Meter zur Passhöhe hoch - und was mich da erwartet, haut mich fast vom Rad: der Blick auf Nauders! Ich weiß, ich habs geschafft! Die ganzen Strapazen sind vorbei Soll ich mich freuen oder heulen? Warum eigentlich Strapazen und warum heulen? Nun ja, es war nicht ganz so einfach und die vielen traumhaften Erlebnissen waren zugleich auch traumatische. Zu denen komme ich jetzt.
Da ist zum einen die Abfahrt vom Reschenpass, als vor einer Kurve plötzlich stark abgebremst wird und alle Radler langsam machen. Ziemlich schnell sah ich den Grund dafür: ein Radler zieht einen gestürzten Kollegen von der Straße, der viel Blut im Gesicht hatte und schwer verletzt aussah. Mir lief es eiskalt den Rücken runter und hatte den Anblick noch lange im Kopf.
Am Anstieg zum Stilfser Joch fühlte ich mich die ersten 1000hm ganz gut, bis dann 900hm vor der Passhöhe mein Körper mir unmissverständlich mitteilte, dass ich überzogen hatte und meine Muskeln übersäuert waren - und der Rest des Körpers wohl auch. Ich versuchte noch schnell, mit einem Energiegel was zu retten, aber das half absolut nichts. Und von da an quälte ich mich 900hm bis zur Passhöhe im ersten Gang mit 8 km/h. Ein Blick in die Landschaft half kurzzeitig, von den Qualen etwas abzulenken, aber weg gingen sie dadurch nicht. Radler um Radler überholte mich. Nicht einmal eine Frau mit einem Mountainbike konnte ich überholen (wer mich gut kennt, der weiß, dass ich so etwas gar nicht abkann). Die letzten Kehren, die an der Felswand hingen, schienen zu dem Zeitpunkt unendlich. Es war wie ein Spiel zwischen Engelchen und Teufelchen im Kopf, das aber der böse Mann der Unterwelt zu gewinnen schien. Irgendwann war ich dann oben, drückte mir schnell Getränk und Banane in den Magen und dann gings abwärts. Kaum in der Schweiz angekommen und an Heinz vorbeigefahren, dem ich noch lächelnd zuwinkte, zwickte es bei einem kleinen Anstieg in beiden Waden. Ein Krampf - naja, den hatte ich schon bei zwei Rennen. Einfach die Fersen nach unten drücken und dann ist er vorbei. Danach schoss mir ein weiteres Zitat in den Kopf, diesmal von meinem Vater: "Denkste Puppe!" Beide Oberschenkel meldeten sich zu Wort. Jetzt kam ich wirklich ins Schwitzen und befürchtete, dass das Rennen jetzt vorbei ist, denn die Schmerzen erreichten ein für mich bisher unbekanntes Maß. Aber diesmal gewann Engelchen den Kampf - bzw. bezwang den Krampf! Die Krämpfe waren nach einer guten Minute einfach verschwunden.
Aber Teufelchen wartete schon wieder auf mich am Ofenpass - und obwohl ich es wusste, hatte ich keine andere Wahl. Da muss ich rüber. Der Pass war von Anfang bis Ende eine Qual, vielleicht sogar Folter. Und da ich nur mit mir selber kämpfte, wollte die Qual auch nicht aufhören. Soll ich absteigen und Pause machen? Soll ich schieben? Soll ich einfach versuchen, schneller zu fahren? Soll ich so weiter fahren? Ich entschied mich für die letzte Variante - die Entscheidungshilfe gaben mir einige Radler, die am Rand Pause machten und die ich immerhin überholen konnte. Ich hatte nicht die geringste Hoffnung, dass eine Pause meinen Körper wieder in die richtige Bahn bringen konnte. Und wie ein Wunder erreichte ich dann doch die Passhöhe und freute mich auf die Abfahrt ins Engadin. Die Freude wurde getrübt durch einen Gegenanstieg und eine Baustelle, die ich bis dahin in meinen vielen Gedanken vergessen hatte. Der Gegenanstieg hatte ein letztes steiles Stück, an dem ich (mal wieder) auseinander fallen zu drohte, und die Baustelle kostete mich wegen einer roten Ampel sicherlich 2 Minuten.
Im Engadin blies der Wind natürlich entgegen, so dass ich oftmals im Wind arbeiten musste, um die Gruppe am laufen zu halten. Dies kostete so viel Energie, dass ich danach nur noch kämpfte, um im Windschatten mit der Gruppe bis zum Anstieg zur Norbertshöhe mitzukommen.
Aber letztendlich schaffte ich es, brachte die Norbertshöhe noch ehrenvoll hinter mich und gab auf der Abfahrt nach Nauders nochmal volle 100%. Im Ziel fühlte ich mich kurz vor klinisch tot - Bilder sagen wohl mehr als 100 Worte.
Dieses Gefühl hielt noch fast eine ganze Stunde an - das will ich nie mehr erleben.
Im Nachhinein muss ich aber sagen, dass die schönen Gedanken die grausamen verdrängt haben und der Dreiländergiro mir in guter Erinnerung bleiben wird. Was sind schon kurzfristige Schmerzen, wenn man für ewig die schönen Bilder im Kopf behalten wird? Ich habe gemerkt, dass Zeiten und Ergebnisse nicht alles sind - vorallem bei so einem Bergrennen -, sondern dass Impressionen und Erinnerungen viel mehr zählen.
Ja, und die Diakonie Stiftung freut sich natürlich auch. 50 Euro sind zwar nicht viel, aber auch das hilft einem Projekt oder einer bedürftigen Familie weiter. Die zusätzlichen 50 Euro gibts (noch) nicht, da ich mit meiner Leistung (kämpferischen) Leistung vollauf zufrieden bin. Die Erfahrung fehlt eben noch, aber dafür habe ich ja noch einige Radlerjahre vor mir. Am nächsten Wochenende bin ich dann wieder in meinem Lieblingsterrain unterwegs - topfeben auf dem Hockenheimring erlebe ich richtiges Formel 1 Feeling. Drückt mir die Daumen, dass ich dort sturz- und schadenfrei bleibe.
Rainer