Mittwoch, 2. September 2015

„Ich habe einen Traum“

heißt der Slogan des Ötztaler Radmarathons,
der dieses Jahr am 30.08. wieder in Sölden ausgetragen wurde.
In Anlehnung an die berühmten Worte von Martin Luther King warb auch der Geschäftsführer des Ötztaler-Tourismusbüros für das begehrte Radrennen in den Alpen.
„Ich habe einen Traum, … von epischen Radausfahrten, herrlichen Eindrücken und eines einzigartigen Erlebens der Ötztaler Natur auf dem Rad“.
Das „Gschau“ (österr. für Gesicht) des diesjährigen Ötzis ist der Bergkristall, …er soll die Kraft und Faszination der Alpen symbolisieren und für Mut, Weisheit und Klarheit stehen.
 
Schöne und steile Straßen gibt`s im Ötztal genug, diese führt von Sölden hoch zum Rettenbachferner.


Immer wenn unter Radlern vom Ötzi die Rede ist, sehe ich ehrfurchtsvolle Mienen und höre wertschätzende Kommentare.
Kann ich mir 238 km und 5500 Hm zutrauen ? Ich habe Zweifel.
Um diese zu beseitigen, wird ein Ötzi-Test anberaumt, ein „Ötzi-light“, die Strecke auf 2 Tage verteilt.
Uwe und ich bestehen den Test, … die Zweifel bleiben.
 
So begrüßt Sölden seine Marathon-Starter, ...
               mit einem Riiiiiesen-Radtrikot, aufgehängt am Haken eines Autokrans.


Nun sind wir also in Sölden, überall Radler, … am Samstag noch eine letzte lockere Ausfahrt, …dann stehen wir um 6.00 Uhr inmitten von 4500 Teilnehmern, …
Fotos werden gemacht, gute Wünsche zugerufen, … die Nervosität steigt.
In dichtem Pulk geht`s mit 50-75 kmh leicht talabwärts bis Ötz.
Am Kühtai-Pass werden die ersten Positionskämpfe ausgetragen.
Ich sage mir, … mir geht es nur um`s Durchkommen,
um Sölden vor dem Besenwagen wieder zu erreichen, … aber, … !?
Der Test hatte ja ergeben, daß eine Zeit von 12-13 Stunden absolut realistisch wäre. 

Es gibt genaue Durchfahrtszeiten für Kühtai, Brenner, Jaufenpass und Timmelsjoch, die eingehalten werden müssen. Wer diese Vorgaben nicht schafft, wird aus der Wertung genommen.
 


Am Brenner werden wir Fundracer von unserem privaten „Diakonie-Versorgungsteam“ betreut. Heinz und Martin warten nicht nur mit Getränken, Riegeln und Gels auf, sie motivieren auch , wo es nottut. (Vielen Dank Euch beiden !)
Teilnehmer, die im letzten Jahr auch dabei waren, erzählen von dem fiesen und kalten Ötzi-Wetter 2014. Von Regen und Kälte kann heute keine Rede sein, … es herrscht „Kaiserwetter“.
(Ob der Kaiser bei diesen hochsommerlichen Temperaturen wohl auch mit dem Radl über 4 Alpenpässe gefahren wäre ?)
Bis St. Leonhard läuft Alles wie geplant.
Auch auf den ersten 14 km am Timmelsjoch habe ich noch keinen Grund zur Besorgnis.  Dann deuten sich Krämpfe an.
Ein kurzer Stopp, in der Erwartung die Beine könnten sich erholen, hilft nicht.
Der Versuch weiterzufahren scheitert kläglich. Die Krämpfe werden schlimmer.
Vorbeifahrende Radler rufen mir zu, „lauf ein paar Minuten, dann wird`s besser“. Ich versuch`s, … es hilft nicht !
Ausdauernde Muskelirritationen in dieser Vehemenz hatte ich noch nie.
Rectus femoris, Vastus lateralis, Vastus medialis, Sartorius, Tensor fasciae, Adductor longus, …
alle Beinmuskelgruppen rebellieren.
Habe ich doch zu wenig getrunken ? Ich überschlage, … über 5 Liter bis hierher waren es sicher. 
Anfangs wehre ich mich noch gegen den Gedanken aufzugeben, … dann winke ich dem nächsten Besenwagen. „Sorry, wir sind voll“.
In den nächsten 30 Minuten höre ich diese entschuldigenden Worte von 5 vorbeifahrenden Besenwagenfahrern. Ich könnte schreien vor Wut !
Macht Wut erfinderisch ? Mir fällt ein, dass ich in meinen Taschen noch eine Trinkampulle mit Aminosäuren habe. Ich trinke die übelschmeckende Brühe.
Ein freundlicher Teilnehmer fragt beim Passieren, ob er helfen kann. Er bietet mir Magnesiumpulver für die Krämpfe an. Ich könnte ihn umarmen. Das Zeug hilft !
 
Foto von der Bergstation des Gaislachkogel, 
im Hintergrund ist die Pass-Straße vom Timmelsjoch nach Sölden zu sehen.

 Also, … zurück in den Sattel und vorsichtig – nur keine Krämpfe mehr riskieren – bis zur Verpflegungsstelle Schönau.
Während meine Beine von 2 netten Physiotherapeutinnen geknetet werden, fasse ich neuen Mut:
Irgendwie müssen diese letzten 12 läppischen Kilometer bis zur Passhöhe Timmelsjoch doch noch zu schaffen sein.
Es ist 18.10 Uhr. Ich rechne, … die Durchfahrtszeit Timmelsjoch ist 19.30 Uhr. Das müsste reichen.
Es werden 12 bange und endlos lange Kilometer.
Käme jetzt ein Besenwagenfahrer vorbei, Hilfe anbietend, …
ich befürchte, ich würde ihn anraunzen … „go to hell“ ! 

Erleichtert fahre ich durch den 500 m langen Tunnel, … nur noch 1 km bis zur Passhöhe.
Beim Überfahren der Kontrollschleife ist es 19.16 Uhr, … puuuh,  … das war knapp !     
Die restlichen 29 km (fast) nur noch bergabwärts bis Sölden. 

Nix Zielsprint, … in der Zwischenzeit ist die Straße wieder für den Verkehr freigegeben und ich muss mich die letzten 2 Kilometer durch beidseitigen Autostau schlängeln. 

Beim Durchfahren des Zielbogens höre ich wie der Moderator meinen Namen aufruft, …alles Andere nehme ich wahr, wie unter einer  Käseglocke.



Plötzlich stehen da Heinz, Martin G., Uwe, Martin Pf., …
Von ihnen erfahre ich, dass zwei unserer Team-Kollegen von ähnlichen Problemen wie den meinen geplagt wurden und aufgeben mussten.
Ein weiterer Fundracer konnte wegen einer Immundefizienz gar nicht angetreten.
(Schade, dass Ihr in diesem Jahr nicht in den Genuss gekommen seid, unter dem „Red Bull Bogen“ ins Ziel zu fahren.)


Auf der Aussichtsplattform des Gaislachkogels.
(Ist kein Fotograf zugegen, muss es eben ein Selfie tun.)  
Ja, … ich bin zufrieden. Dem Traum vom „Ötzi“ bin ich näher gekommen. Ob er mit einer 12 Stunden-Zeit erreicht worden wäre ?
Vielleicht.
Mal sehen, ob ich 2016 nochmal einen Startplatz bekomme.    

„Nicht die beste Zeit auf den berühmten 238 km steht im Vordergrund“ (schreibt der Geschäftsführer  des Ötztaler Tourismusbüros in seinem Grußwort),
„sondern der Weg dorthin, dieses Abenteuer mit Freude und Lust zu bewältigen“.
Damit tröste ich mich.  
Joachim.