Freitag, 1. Juli 2011
Dreiländergiro
Wir stehen am Start eines Rennens in Nauders unter 3600 Teilnehmern, um 165 km und 3500 Höhenmeter in Angriff zu nehmen. Wir, das sind Micha, Rainer, Jochen, Martin, Ralph, Joachim, Uwe und Thomas.
Um 6.30 Uhr ist es soweit, noch ein kurzes Zunicken zu den anderen Fundracern … soll heißen viel Glück … und auf geht`s. Die Zeitnahme beim Start erweist sich als Nadelöhr, obwohl wir uns im ersten Drittel des Feldes positionieren können. Ohne Aufwärmphase beginnt der Dreiländergiro mit den restlichen Reschenpass-Höhenmetern bis zur Passhöhe. Mit Höllentempo rauscht das Peloton hinunter nach Glurns. Mein Tacho zeigt 75 kmh. In Prad, am Fuße des Stilfser Jochs ist es morgens gegen 8 Uhr noch frisch, trotzdem entledigen sich hier viele Teilnehmer ihrer Windjacken, Armlinge, Beinlinge, … denn jetzt wird`s warm. 24 km bergauf über 48 Kehren und 1850 Höhenmeter sind zu bewältigen.
Wie erwartet, zieht sich nun das Feld auseinander, die Schnellen entschwinden Richtung Passhöhe, während sich hinten im Kreis der Normalsterblichen ein kollektives Keuchen und Schwitzen vernehmen lässt. Nun muss Jeder sein eigenes Tempo fahren und versuchen, den anaeroben Bereich zu meiden.
Das ist sie also, die „Königin der Passstraßen“, die höchste Passstraße Italiens und die zweithöchste Passstraße der Alpen. Nicht nur wegen des atemberaubenden Straßenverlaufes gehört dieser Pass zu den bekanntesten und prestigeträchtigsten Anstiegen Europas, sondern auch wegen der einmaligen Naturkulisse, die man im Trafoier Tal durchradelt.
Zwischendurch ist immer wieder ein blau-weißes Diakonie-Trikot zu entdecken, Uwe, Ralph, Thomas, … die anderen sind entschwunden. Trotz des schnellen Atems bleibt gelegentlich noch Zeit für ein Späßchen, … sagt Ralph: „Ich würde Dir jetzt gerne eine Geschichte erzählen, aber irgendwie ist es der falsche Zeitpunkt.“ Kurz unterhalb der Passhöhe läuft der Motor mittlerweile im roten Bereich. Viel länger hätte der Pass nicht sein dürfen ! Gegen 10 Uhr ist auf der Passhöhe schon mächtig Trubel, … ein Tohuwabohu von Radlern, Motorradfahrern, Andenken- und Würstchenverkäufern, … Unterhemd wechseln und schnell weg. Da entdecke ich Rainer, den ich zu dem Zeitpunkt schon am Ofenpass vermutet hätte. In Kurzform erzählt er von seinen 2 platten Reifen. So ein Pech.
Die Abfahrt über den Umbrailpass entschädigt für so manchen Schweißtropfen des Anstieges. Nur vorsichtig die 4 km Schotterpassage überstehen, der Rest der Straße bis nach St. Maria ist „Radler`s Paradise“. In St. Maria gilt es an der Verpflegungsstelle (in Österreich „Labestation“ benannt) ordentlich Flüssigkeit zu tanken, … die nächste schweißträchtige Herausforderung wartet mit dem Ofenpass.
Obwohl „nur“ 800 Höhenmeter zu bewältigen sind, zieht sich die Straße endlos dahin. Habe ich etwa schon zuviel Körner am Stelvio gelassen ? Die 11% kommen mir vor wie 18. Mit Genugtuung sehe ich, dass auch die Anderen leiden. Es dauert schließlich nicht lange und ich kurble mich aus dem Zwischentief, der Tritt wird wieder runder … und die Passhöhe lässt sich auch schon absehen. Durchatmen, locker auspedalieren, essen, trinken.
Ich freue mich auf die etwa 20km lange Abfahrt ins Engadin nach Zernez. Die Tagestemperatur hat sich nunmehr auf angenehme 26° eingependelt. Die überflüssigen Kleidungsstücke sind im Rucksäckchen verstaut. Mit Ova Spin kommt zwar noch ein Gegenanstieg vor Zernez, aber die Gedanken sind schon bei den leckeren „Linzer“-Kuchenschnitten und der Nuss-Mischung, die an der nächsten Verpflegungsstelle traditionsgemäß angeboten werden.
Über Scuol nach Martina verläuft die weitere Strecke im Engadin malerisch am Inn entlang. Eine Sonntagnachmittags-Spazierfahrt könnte man meinen, wäre da nicht der unangenehme Gegenwind und die gelegentlichen Gegenanstiege. Schön, aber unangenehm zu fahren, wenn man schon müde Beine hat. Erschwerend kommt dazu, dass sich keine passende Gruppe mehr finden lässt. Mal sind wir zu schnell für die Anderen, mal sind die Anderen zu schnell für uns. Also müssen Uwe und ich uns selbst durchbeißen. In Martina angelangt, gibt es eine letzte Verpflegungsstelle vor dem Schluss-Anstieg, der Norbertshöhe. Also schnell noch ein paar Stücke Traubenzucker einwerfen und die Muskeln lockern. Mit gerade mal 400 Höhenmetern und 6km Länge eigentlich ein herrlicher Pass, anbetracht der schon bewältigten Anstrengungen des heutigen Tages, aber die Energiereserven scheinen aufgebraucht. Der Pulsuhr schenke ich an diesem Anstieg keine Aufmerksamkeit mehr. Die Zuschauer am Straßenrand werden dichter. Ihre Anfeuerungsrufe wirken kurz vor der Kuppe wie ein zugeschalteter 100-Watt Motor.
Nauders liegt vor uns im Tal. Ein unbeschreibliches Gefühl.
Erschöpft, aber glücklich durchfahren wir das Ziel-Tor. Wo gibt es ganz schnell ein kühles „Radler“ ?
Wir treffen auf die anderen Fundracer, die schon länger vor uns angekommen sind, … sei denen gegönnt, … sie sind auch einige Jährchen jünger, als wir beiden Oldies.
Joachim.