Mittwoch, 2. Juli 2014

Fichkona


der „Wahnsinnsritt“ vom Berg zum Meer

 

… so titelte das Radsportmagazin TOUR den Bericht 9/2013
zum 610 km langen Radmarathon vom Fichtelberg (Erzgebirge) nach Kap Arkona auf Rügen.  

Pünktlich - wie angekündigt - fängt am Samstagmorgen, den 28.06., auf dem windigen Gipfel des Fichtelberges die Friedensglocke an zu schlagen, …
das Zeichen für 190 Radler an den Start zu kommen.
 


 ... noch sind die Fichkona-Teilnehmer mit ihren Vorbereitungen beschäftigt 
 

Alle möglichen Trikots von namhaften Veranstaltungen und / oder Sponsoren sind zu sehen,
unter ihnen auch zwei hellblaue mit dem Aufdruck „Diakonie Fundracing Team“.
Jochen Böhringer und ich haben uns - unabhängig voneinander – für dieses Event entschieden, und hatten beide das Glück, ausgelost zu werden.
Weil Jochen am Freitag noch arbeiten musste, konnten wir leider nicht zusammen anreisen.
Mit Dieter W., einem Langstrecken-Enthusiasten aus Dettingen, bilde ich eine Fahrgemeinschaft.
 


Fichtelberg, ... vor dem Start
 

Nun stehen wir also hier und warten auf den Startschuss.
Ein Satz von Lucius Annäus Seneca kommt mir in den Sinn:
„Nicht weil die Dinge unerreichbar sind, wagen wir sie nicht, …
weil wir sie nicht wagen, bleiben sie unerreichbar“. 

Gegenüber den Massenveranstaltungen, an denen ich in den letzten Wochen teilgenommen hatte, registriere ich hier eine wohltuend entspannte Atmosphäre.
So ist es auch vom Veranstalter gewollt.
Ganz bewusst will er eine Teilnehmeranzahl von 190 nicht überschreiten, die eine Hälfte „Mehrfachtäter“, die andere Hälfte „Ersttäter“. Fichkona soll ein familiäres - vom Profitdenken losgelöstes - Event sein und bleiben, … ein sehr löblicher Anspruch.
 



... die letzten Instruktionen werden gegeben
 

Eine rasante Abfahrt vom Fichtelberg beginnt, … der Asphalt ist gut und ohne Schlaglöcher, die Straße trocken, selten kommt uns ein Auto entgegen.
Schon bei den ersten ansteigenden „Wellen“ und dem Tempo, in dem diese gefahren werden, merke ich, dass ich mich nicht auf einem Kindergeburtstag befinde. 

 Wir fahren durch Chemnitz, … die Durchfahrt ist eher unschön, eine rote Ampel nach der anderen. Nach mindestens 15 erzwungenen Stopps frage ich mich, ob wir die 24 Stunden-Vorgabe so jemals erfüllen können.
Lange, ebene Passagen folgen, in denen Geschwindigkeiten von über 40kmh gefahren werden.
Für die gesamte 610km-Strecke mit ihren 2600Hm sind 7 Verpflegungsstationen vorgesehen. Ein gutes Angebot an Nahrung und Getränken erwartet uns. Außerdem stehen an jeder Station die von uns mit persönlichen Dingen befüllten Jutesäcke bereit (Wechseltrikots, Regenbekleidung, Beleuchtung, …). 

Es wird zunehmend dunkel und stiller in der Gruppe und ich freue mich auf die nächste Verpflegung. Höchste Zeit nun für das Anbringen der Radbeleuchtung.
Nach 30 Minuten Pause geht es dann endgültig in die Nacht, in der ich normalerweise schlafe. 

Die Potsdam-Durchfahrt gegen 22.00 Uhr in geschlossener Gruppe
und im „Begleit-Blaulicht“ von Polizeimotorrädern sorgt für eine schöne, willkommene mentale Ablenkung. 

Mit Einbruch der Dunkelheit kommt nun auch Nieselregen auf.
Richtig unangenehm wird es, als der Nieselregen in richtigen Regen übergeht.
Die Nacht verschluckt uns und das größte Übel, eine hartnäckige Müdigkeit ergreift nach und nach Besitz all unserer Sinne.  

Es ist nun etwa Mitternacht.
Seit knapp zwei Stunden fahren wir nun schon im Regen,
wassergetränkte Schuhe und durchnässte Hose lassen beim Radeln in der Nacht nicht viel Freude aufkommen. Der Strom „sinnfragender Schweinehunde“ scheint nicht abzureißen. 

An Regen-, bzw. Kälteschutzkleidung nutze ich nur eine Regenjacke.
Die Chance, meine völlig durchnässten Klamotten gegen trockene aus dem Begleitsack zu tauschen, versäume ich in der Hektik der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, …
Was würde es auch nützen, neue Bekleidung wäre bei unverändertem Niederschlag nach 30 Minuten genauso durchnässt, … also bleibt die „Hosensattelsitz-Dämpfung“ weiter wassergetränkt und die Socken genauso nass und schlotterkalt.
Die schrumpeligen Füße stehen gefühlt in jeweils einem halben Liter kaltem Wasser. 

Die folgenden 3 Stunden bis zur nächsten Rast sind die schlimmsten.
Ich stelle mir die Strecke nie im Ganzen vor, immer nur abschnittsweise,
trotzdem scheint die Zeit nicht zu vergehen, … Kälte, Nässe … und ein dauerfröstelnder Körper spult die Tretarbeit monoton herunter, … der Geist sucht nach Ablenkung.
Ich rezitiere Gedichte, … mit wenig Erfolg, die Müdigkeit ist stärker und Halbträume „eines trockenen Bettes, wohliger Wärme“ versuchen sich in der Psyche Geltung zu verschaffen. Die Bäume in den langen Alleen nehme ich – zeitweise halb halluzinierend - als stehende menschliche Riesen wahr, die uns Vorbeifahrende betrachten.
Ja, die Vorboten des gefährlichen Sekundenschlafes sind nun endgültig da
der Kampf gegen die latente „Schwerkraft der Augenlider“ hat begonnen.
Die Angst davor ließ mich diese Phasen sturzfrei überstehen. 

Wir passieren ein Straßenhinweisschild -211 km Stralsund, ich bin ziemlich platt …
und nun noch mal weitere 211 km, normalerweise ein Radmarathon, …
puuuh, … und dann noch die verbleibenden Kilometer auf Rügen.  

Endlich, endlich, … wir stehen am Rande einer Verpflegungsstelle, … fröstelnde, müde Körper auf der Suche nach einer (nicht vorhandenen) Sitzgelegenheit. Ach, was wären ein paar Minuten in einem geheizten, trockenen, windgeschützten Raum doch schön, um diese elende Kälte aus den Gliedern zu treiben. In einer lauen Sommernacht könnte man sich auch ein paar Minuten auf dem grünen Rasen ausruhen, ach, … 

Flaschen auffüllen, Müsliriegel & Bananen in die Trikottaschen, sowie nebenher Nudeln & Wurstbrote „reinschieben“ … und weiter geht`s.
Hätte ich doch „RedBull“ in die Trinkflaschen füllen sollen?? 

Mein Garmin verabschiedet sich mit den Daten für Puls, Trittfrequenz und Leistung. Mist. 

Bereits ca. eine Stunde früher hier im Norden zeigt sich schon ein dünner, heller Dämmerungsstreifen am Himmel (sehr motivierend!!).
Ein heißer Pulverkaffee hellt die Stimmung weiter auf.
Mein Biorhythmus hat sich mittlerweile wieder voll auf den Tag eingestellt;
alle Ermüdungsanzeichen sind nun verschwunden.
Langsam wird es heller und der Tacho zeigt über 450 km, die bereits hinter mir liegen.
Es wird wieder lebhafter in der Gruppe, auch die anderen werden wieder wach. 

Nach der Überquerung des Rügendamms in Stralsund sind wir nun endlich auf Rügen.
Im Morgengrauen hier die Ostsee zu sehen, ist ein schönes Gefühl, …
aber es fehlen immer noch 70 km bis zum Kap. 

Der Stopp in Samtens (Rügen) ist am Bahnhof gelegen. Neben dem üblichen VP-Prozedere (Nahrungs- & Flüssigkeitsschnellaufnahme, Flaschen nachfüllen, Riegel bunkern, etc) wird abgeschätzt, ob die Restzeit bis zum Kap noch reichen könnte, um in dem gefassten Zeitziel von 24 Stunden zu bleiben. 

Die stundenlange Ausdauerleistung und der Regen haben dazu geführt, dass der Körper sich weitestgehend auf absolut notwendige Grundfunktionen zurückgezogen hat, was den unschönen Nebeneffekt einer schleichenden Auskühlung bei diesen Witterungsbedingungen mit sich bringt. Ein fast nicht kontrollierbarer Schüttelfrost ist bei mir die Folge. Ich habe Mühe, den Lenker stabil zu halten. Zwei Gel-Heftchen in den Mund gedrückt helfen.
 

Schnell erreichen wir Sagard mit dem oft zitierten, „berüchtigten“ und gefürchteten kilometerlangen Kopfsteinpflaster-Abschnitt. Zähne zusammenbeißen (wegen den Plomben, hi,hi) und schnell durch. Spätestens hier wird der letzte Teilnehmer wachgerüttelt und spürt nun auch schmerzend seinen Hintern.

Nochmals Kopfsteinpflaster in Putgarden, … aber es ist im Anblick des Kap Arkona Leuchtturmes nun gar nicht mehr so schlimm.

Bereits im „Ausroll-Modus“ wird der letzte Kilometer genossen und die letzten Eindrücke des „Wahnsinnsritt“ aufgesogen,    Sommer-(Regen) Landschaft, jubelnde Zuschauer in warmen Anoraks, … und dann das Ziel-Transparent.

Mit einem starken Gefühl von Euphorie, … auf dem 45 m hohen Steilküstenabschnitt am nördlichsten Punkt von Rügen, … wird vom Rennrad „abgesattelt“.

Vor mir tobt die Ostsee und mein Blick endet irgendwo in der Unendlichkeit. 

Jochen Böhringer konnte mit seiner schnelleren Gruppe in einer Zeit von 23Std.30Min. ins Ziel fahren, mein Garmin ermittelte bei mir eine Gesamtzeit von 24Std.29Min. inclusive aller Verpflegungspausen.

Wir genehmigen uns noch kurz eine Thüringer Bratwurst mit heißem Kaffee (!!), …
für ein Weizenbier sind wir zu ausgekühlt, ...
und genießen noch 30 Minuten „Arkona-Feeling“,
Leider haben wir noch eine abschließende 12-km-Radrückfahrt zu unserem „Basecamp“ vor uns.
Nach einer heißen Dusche und 3 Stunden Schlaf können wir uns der intensiven Kompensation von Kohlehydraten und Flüssigkeit zuwenden.
 

Joachim.

 
Von Rügen zurück auf dem Fichtelberg, ... 54 Stunden später